Ist die Zeit reif für eine weltweite Demokratie? Wir brauchen ein direkt gewähltes Weltparlament, meint New Internationalist-Autor George Monbiot
George Orwell stellte 1937 fest, dass „jede revolutionäre Ansicht ihre Kraft zum Teil aus einer insgeheimen Überzeugung bezieht, dass sich nichts ändern kann“. Sozialisten aus dem Bürgertum, so sein Vorwurf, wären nur deshalb bereit, den Tod des Kapitalismus und die Zerstörung des britischen Empire zu fordern, weil sie wüssten, dass es nur mit geringer Wahrscheinlichkeit dazu kommen würde. Ein Sozialist aus der Mittelschicht „ist durchaus bereit, die Früchte des Empire zu akzeptieren und seine Seele zu retten, indem er die Leute verhöhnt, die das Empire zusammenhalten“.
Wir in der reichen Welt leben nur deshalb in relativem Wohlstand, weil unsere Regierungen über unverhältnismäßige Macht verfügen und diese Macht zu unverhältnismäßigem Reichtum führt. Die Notwendigkeit einer weltweiten Demokratie zu akzeptieren heißt auch zu akzeptieren, dass unsere Länder die Macht verlieren werden, die Welt zu unserem Vorteil zu regieren. Aus meiner Sicht gibt es nur ein Mittel, diese Legitimitätskrise ein für allemal beizulegen: Weltweite Demokratie ist bedeutungslos, solange nicht die letzte Kontrollkompetenz in Händen einer direkt gewählten Versammlung liegt. Wir brauchen ein Weltparlament.
Wenn Sie bei dieser Idee wie die meisten Menschen in den reichen Ländern Widerwillen empfinden, lade ich Sie ein, die Gründe für ihre Reaktion näher zu untersuchen. Liegt es daran, dass Sie glauben, eine solche Institution wäre zu abgehoben und könnte zu mächtig werden? Oder liegt es vielmehr daran, dass Sie die Vorstellung nicht ertragen, dass ein Mensch aus dem Londoner Bezirk Kensington nicht mehr zu reden hätte als einer aus Kinshasa? Dass den EinwohnerInnen von Sri Lanka ebenso viele Abgeordnete zustünden wie AustralierInnen (oder mehr, da ihre Bevölkerung wächst)? Dass Menschen aus China zusammen 41mal mächtiger wären als KanadierInnen?
Um es auf den entscheidenden Punkt zu bringen: auf internationaler Ebene wird Macht ausgeübt, ob wir das nun wollen oder nicht. Das Fehlen eines rechenschaftspflichtigen Forums verhindert nicht, dass Entscheidungen auf Weltebene getroffen werden, sondern stellt nur sicher, dass sie nicht demokratisch zustande kommen. Es geht nicht darum, Nationalstaaten oder ihren BürgerInnen weitere Kompetenzen zu entziehen, sondern jene Macht einer demokratischen Kontrolle zu unterwerfen, die auf supranationaler Ebene bereits ausgeübt wird.
Eine berechtigtere Sorge bezieht sich darauf, dass ein Weltparlament korrumpiert oder unterwandert werden könnte. Dies ist eine reale Gefahr für jede repräsentative Institution, doch kann man einiges aus parlamentarischen Systemen wie dem britischen lernen, das über keine ausreichenden Schutzvorkehrungen verfügt. Etwa könnte die private Finanzierung des Wahlkampfs verboten werden, und es sollte verboten sein, „Whips“ („Fraktionseinpeitscher“) einzusetzen, um die Abgeordneten auf Linie zu bringen, sofern es überhaupt Parteien gibt. Aber zweifellos müssten wir ein Weltparlament wie jede andere gewählte Vertretung zur Rechenschaft ziehen, indem wir Missstände aufdecken, Fehlverhalten bloßstellen und Widerspruch einlegen.
Allgemeine Zustimmung und Legitimität wird ein solches Parlament aber nur unter einer wesentlichen Voraussetzung gewinnen: Es muss sich in Reaktion auf Anliegen der Basis entwickeln und darf nicht von oben herab eingeführt werden wie das Europäische Parlament oder die Vereinten Nationen. Und zwei unverzichtbare Bedingungen drängen sich auf. Erstens, alle seine Mitglieder sollten direkt gewählt werden, mit der offensichtlichen und revolutionären Konsequenz, dass nationale Regierungen dabei umgangen würden. Zweitens, die Befugnisse des Parlaments müssten streng begrenzt sein: Sowohl durch den Grundsatz der Subsidiarität (die Zuständigkeit muss bei der kleinsten geeigneten politischen Einheit liegen) als auch durch die Einschränkung seiner exekutiven Macht.
In der Praxis würde ein solches Parlament vielleicht wie eine Reihe von mit allen Vollmachten ausgestatteten Sonderausschüssen agieren, die Verwaltungsbehörden kontrollieren, Berichte zu bestimmten Politikbereichen erstellen und nicht mehr funktionsfähige Institutionen ersetzen oder reformieren. Aber es würde keine Armee kontrollieren und keinerlei Zwangsgewalt über Staaten ausüben. Sein allfälliger Präsident oder seine Präsidentin hätte nur eine nominelle oder administrative Funktion. Das Parlament würde einfach zu einem Mittel werden, multilaterale Institutionen zu zwingen, im wohlverstandenen Interesse der Allgemeinheit zu handeln und nicht bloß im Interesse der Reichen und Mächtigen.
Wie diese bescheidene Institution die Regeln der Weltpolitik verändern könnte, liegt auf der Hand. Multilaterale Institutionen wie die Weltbank und der IWF, deren Aufgabe darin besteht, die Schuldnerländer im Auftrag der Gläubigerländer zu kontrollieren, würden sofort verschwinden. Eine demokratische Versammlung würde sie wahrscheinlich durch eine Institution wie die „International Clearing Union“ von Keynes ersetzen, die sowohl Gläubiger wie auch Schuldner zu einer Beseitigung der Schulden der „Dritten Welt“ zwingen und unausgewogene Handelsbeziehungen abschaffen würde. Die WTO, sofern sie überhaupt überleben sollte, würde gezwungen werden, ihre Entscheidungsverfahren einer demokratischen Überprüfung zu unterziehen. Falls das Weltparlament einen weltweiten Fonds verwalten würde (gespeist etwa aus einer „Tobin-Steuer“ auf internationale Finanztransaktionen), könnte es sicherstellen, dass diese Mittel nicht zum Spielball mächtiger Nationalstaaten werden. Die UNO hätte sicher keine Probleme mehr, ihre humanitäre Arbeit zu finanzieren, und ärmere Länder könnten Mittel erhalten, um an internationalen Verhandlungen teilzunehmen.
Interessanterweise könnte das Parlament anderen, vom Geist der internationalen Solidarität getragenen Vorschlägen Legitimität verleihen. Wie Troy Davies von der World Citizen Foundation hervorgehoben hat, ist die Legitimität der Einhebung weltweiter Steuern ohne eine solche Vertretung fragwürdig; ebenso verhält es sich mit einer internationalen Gerichtsbarkeit (wie dem geplanten Internationalen Strafgerichtshof), den Kriegsverbrechertribunalen in Den Haag und Arusha und einer fairen Festsetzung einheitlicher Verbrauchsquoten für Kohlendioxid.
Da sich Nationalstaaten aber dagegen wehren werden, ihre illegitime Kontrolle der weltweiten Regierungsgewalt aufzugeben, stellt sich eine Frage: Wie werden wir sie davon überzeugen, ihren Platz zu räumen? Meiner Ansicht nach sollten wir das gar nicht versuchen. Wir fangen einfach ohne sie an. Und es gibt Anzeichen, dass genau das bereits geschieht – etwa im Rahmen der Weltsozialforen. Wir müssen nur den Rest der Welt einladen, daran teilzunehmen.
copyright New Internationalist
George Monbiots Buch, Captive State: The Corporate Takeover of Britain ist kürzlich als Taschenbuch bei Pan Macmillan erschienen. Etwa 400 seiner Artikel sind unter www.monbiot.com abrufbar
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